„Nicht autistisch!“ – 10 fadenscheinige Begründungen von Fachpersonen
Bist du unsicher, ob du autistisch bist? Oder hat dir jemand – vielleicht sogar eine Fachperson – erklärt, warum du unmöglich autistisch sein kannst?
Unzählige Erwachsene, die bei sich stark Autismus vermuten und versuchen, Klarheit zu bekommen. Und ich kann nur sagen: Viele der „Argumente“, die man uns entgegenhält, sind sachlich falsch und veraltet.
Deshalb habe ich die zehn häufigsten Aussagen gesammelt, die viele von uns hören, wenn wir Klarheit suchen – und warum diese Aussagen schlicht nicht stimmen. Ich hoffe, es hilft dir, dich selbst ein bisschen weniger zu hinterfragen und auch Gegenargumente zu sammeln, falls du diese mal brauchst.
1. Du siehst nicht autistisch aus.
Viele Fachpersonen haben nach wie vor das stereotype Bild von Autismus im Kopf. Der „klassische Fall“ – kleiner Junge, klar sichtbarer Leidensdruck, vielleicht mit intellektuellen Beeinträchtigungen.
Doch spätestens seit DSM-5 (2013) und ICD-11 ist klar: Viele autistische Erwachsene kompensieren ihre Herausforderungen über Jahre oder Jahrzehnte, maskieren – oft so lange, bis sich die Lebensumstände massiv verändern: Ob Studiumsbeginn, Kinder, Jobwechsel, Verluste, hormonelle Umstellungen oder etwas anderes, einschneidendes.
Um es nochmals klar zu sagen: Autismus hat keinen bestimmten Look. Nur das stereotype Bild in den Köpfen einiger Fachpersonen.
2. Deine Spezialinteressen passen nicht ins Bild
Für viele Fachleute zählen nur Züge, Technik, Atombomben oder Flugzeuge als „echte“ Spezialinteressen. Alles andere – Serien, Mode, Beziehungen, Fotografie, Tiere, Kunst, Sport – wird häufig ernst genommen.
Aber es geht nicht um das Thema, das uns autistisch macht oder nicht, sondern um die Intensität, wie diese Interesse ausgelebt werden. Wie tief unser Wissen ist und wie oft und wie lange wir uns damit beschäftigen wollen.
Und ja: Wenn man auch noch ADHS hat (wie die Autorin hier, hallooo :) ), rotieren die Spezialinteressen manchmal. Das heisst, man hat mehrere Stränge, die sich vielleicht sogar überschneiden. Sie sind jedoch immer intensiver als Hobbies. (Die Autorin weiss übrigens gar nicht, wie sich Hobbies anfühlen, ich hatte nie was anderes als Spezialinteressen, oder dann gar nichts)
3. „Du hast ADHS, also kann kein Autismus da sein.“ (REALLY?)
Doch. Seit über zehn Jahren sogar offiziell. ADHS und Autismus schliessen sich nicht aus – sie zeigen sich nur ein bisschen anders, wenn beides gleichzeitig vorhanden ist.
Die Profile überlappen manchmal, und genau das macht die Diagnostik etwas komplexer. Nur weil wir im DACH-Raum den ICD-11 noch nicht offiziell für die Krankenkassen-Diagnose nutzen können, heisst das nicht, dass wir die Fakten einfach ignorieren und so tun können, als ob AuDHS nur woanders existieren würde.
Im Gegenteil: Es existiert häufiger, als viele denken. Die Kombination von ADHS und Autismus liegt - je nach Studie, und je nach dem, aus welcher Richtung man schaut – zwischen 30 - 70 %.
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4. Du bist empathisch
Dieses Vorurteil hält sich unfassbar hartnäckig – obwohl es sachlich falsch ist.
Klar: Viele von uns fühlen Emotionen anderer sehr stark (teilweise körperlich), können sie aber nicht immer kognitiv einordnen. Oder wir brauchen länger, um eine Geschichte, die wir von anderen hören, für uns einzuordnen.
Und viele von uns drücken Empathie anders aus: Zum Beispiel durch eigene Geschichten, um zu zeigen: Ich kenne das, ich verstehe dich. Und nicht, um das Gespräch an uns zu reissen.
Und noch mehr von uns haben gelernt, neurotypische Empathie nachzuahmen, also unsere autistische Art zu antworten auf solche Situationen wegzudrücken.
Weil wir oft missverstanden wurden von unseren Peers. Und dann schlagen die Diagnostiker:innen gleich Alarm – Achtung, Empathie entdeckt, also kann die Person unmöglich autistisch sein!
Dabei gibt es so viele unterschiedliche Arten von Empathie – bei allen Menschen! Auch Autist:innen befinden sich da auf einem Spektrum von eher unempathisch bis sogar zur Hyperempathie.
Dazu kommt das „Double Empathy Problem“: Autistische und nicht-autistische Menschen missverstehen sich tendenziell – es ist nicht einseitig. Also kann dieses Urteil, ob jemand empathisch ist oder nicht, gar nicht so einfach gefällt werden.
Und genau darum sollten nicht nur von aussen Annahmen getroffen, sondern näher nachgefragt werden, wie wir uns in der Interaktion mit anderen verhalten, ob es natürlich ist für uns, was uns da schwer fällt, und so weiter.
5. Du kannst ein wechselseitiges Gespräch führen.
Viele glauben: Wer überhaupt ein Gespräch führen kann, erfüllt das Kriterium der sozialen Kommunikation nicht. Das ist falsch.
Für viele von uns ist es zwar natürlicher, mehr zu monologisieren, oder immer wieder auf unsere Spezialinteressen zu sprechen zu kommen. Aber das heisst nicht, dass wir uns nicht auch auf unser Gegenüber einstellen können.
Viele von uns lieben es sogar, anderen zuzuhören, wenn sie mitteilen, wofür sie brennen. Und viele von uns lernen auch, was wir in verschiedenen Kontexten wie sagen müssen.
Das heisst: viele von uns können lernen, – wieder mit Masking – neurotypische Gespräche zu führen. Sie sind unter Umständen einfach unglaublich energieraubend, weil wir uns immer selbst beobachten und kontrollieren müssen.
Und nur weil man das von aussen nicht sieht, heisst das nicht, dass wir nicht autistisch sein können.
6. Du hast einen grossen Wortschatz
Das Spektrum reicht von nichtsprechenden autistischen Menschen bis hin zu hyperverbalen. Und so ist es auch wieder im ICD-11 festgeschrieben.
Ein reicher Wortschatz und eine sehr hohe sprachliche Kompetenz sagt schlicht nichts darüber aus, ob man Autismus ausschliessen kann. Genau so wenig wie gute Noten nichts darüber aussagen, ob man ADHS hat oder nicht.
7. Du hast eine Beziehung
Auch diese Idee basiert auf so dermassen veralteten Annahmen, man kann fast den Moder riechen, aus dem diese Aussage gekrochen ist. Autismus ist starkt genetisch bedingt. Natürlich können autistische Menschen Beziehungen führen - wie sollte denn sonst ein autistisches Kind entstehehen?
Es muss also irgendwie hinhauen mit diesen Beziehungen. ;)
Was oft übersehen wird, ist, wie viel Kraft diese Beziehungen verlangen können, oder wie viele Schwierigkeiten im Hintergrund auftreten. Und das ist ein wichtiges Thema, wenn es um die Diagnostik geht. Herauszufinden, was diese Beziehung ausmacht für die Person, wie diese dazu steht und welche Herausforderungen bestehen.
8. Du kannst Augenkontakt halten.
Auch wenn es für viele von uns natürlicher ist, nicht die Augäpfel des Gegenübers zu blicken: Viele von uns haben gelernt, Blickkontakt zu erzwingen – oft, weil wir dazu erzogen und dazu gezwungen wurden. Manche starren fast zu intensiv (Ja, ich zum Beispiel).
Entscheidend ist nicht, ob wir es können, sondern auch hier wieder: wie viel Energie uns Augenkontakt kostet, wie natürlich oder unnatürlich es sich anfühlt und ob er uns überfordert. Du merkt es: auch hier geht es wieder um Masking, das in der Diagnostik nicht als solches erkannt oder anerkannt wir.
9. Du hast Freundschaften
Man hat früher gedacht, Autist:innen brauchen keinen sozialen Kontakt, auch wegen des falschen Annahme, wir seien nicht empathisch und können so nicht in Beziehung treten mit anderen.
Doch nicht selten wurden autistische Menschen schon von Anfang an isoliert und ausgegrenzt – und das ist einfach nur Ableismus und Diskriminierung pur.
Klar, es ist für einige von uns nicht einfach, zahlreiche Freundschaften zu bilden oder auch aufrechtzuerhalten. Viele von uns haben weniger Energie für ständige Kontaktpflege und brauchen viel Rückzug.
Wir bevorzugen oft Parallel Play, also das Nebeneinander sein, statt immer im Austausch.
Das heisst aber nicht, dass wir keine Freundschaften haben können. Wir brauchen einach die richtigen Menschen in unserem Leben. Und spätestens mit der Erfindung des Internets wurde es für alle einfacher, solche Gleichgesinnte zu finden.
Autismus bedeutet nicht Beziehungsunfähigkeit. Es bedeutet, dass die sozialen Erwartungen von nicht-autistischen Menschen kreiert und dominiert werden.
10. Du hast dich selbst um einen Autismus-Diagnostik-Termin gekümmert
Der Klassiker. Als ob jemand sich freiwillig auf monatelange Wartelisten setzt, zig Fragebögen ausfüllt und den emotional herausfordernden Prozess einer Diagnostik durchläuft – einfach nur aus Langeweile.
Die Realität: Viele von uns haben Jahrzehnte voller Fehldiagnosen hinter sich, oder Therapien, die nie das ganze Bild erfasst und nur so semi was gebracht haben. Erst die eigene Recherche – unterstützt durch die Sichtbarkeit anderer neurodivergenter Erwachsener – bringt uns überhaupt auf die Idee, nach Antworten zu suchen.
Nicht, weil es „cool“ ist. Sondern weil wir endlich verstehen wollen, was los ist – und weil wir Verantwortung für unser Wohlbefinden übernehmen und für uns einstehen.
Warum all das so wichtig ist
Die Diagnosekriterien haben sich in kurzer Zeit stark verändert. Viele Fachpersonen sind nicht auf dem aktuellen Stand oder halten an alten Vorstellungen fest.
Zum Glück gibt es immer mehr autistische Fachpersonen, Wissenschaftler:innen und neuroaffirmative Diagnoseansätze. Aber es dauert, bis sich das im deutschsprachigen Raum durchsetzt.
Wenn du dich also in vielem wiedererkennst: Es bedeutet nicht automatisch, dass du autistisch bist. Aber es bedeutet erst recht nicht, dass du es nicht bist.
Und niemand sollte dir einreden, du wärst „zu empathisch“, „zu sozial“, „zu sprachgewandt“ oder „zu erfolgreich“, um autistisch zu sein.
Autismus hat viele Gesichter. Und es ist durchaus realistisch, dass genau du auch eins davon bist. Auf deine individuelle Art und Weise.
Übrigens: nebst Content-Creator bin ich Karriere-Coach für bunte Brains und begleite Menschen zu mehr Erfüllung in Job & Selbständigkeit. Interessiert? dann kontaktiere mich gerne jederzeit oder buche ein kostenloses Gespräch mit mir, in welchem wir schauen, wo du jetzt stehst und wo es hingehen soll. Ich freue mich!